ERSTER PROGRAMMAUSBLICK AUF DIE VIENNALE 2019

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ERSTER PROGRAMMAUSBLICK AUF DIE VIENNALE 2019


Eine Viennale, die sich ändert und verjüngt: Das ist eine der Assoziationen, die das diesjährige Festival-Sujet nahelegt. Die Schlange, die sich erneuern kann, indem sie ihre alte Haut abwirft, wird seit der griechischen Antike mit heilenden Kräften assoziiert und ist daher im Äskulapstab als Symbol der Arzneikunde erhalten geblieben. Wir sehen in ihr die ehrwürdige Sehnsucht nach Wissen und Gelehrsamkeit symbolisiert, derentwegen sie oftmals in die Rolle eines unbequemen Antagonisten gedrängt worden ist, und wir befreien sie von dem Image der Heimtücke und Boshaftigkeit, das sich an sie geheftet hat. In diesem Sinne beschwört die Schlange der Viennale ein Kino der Offenheit, das sich nach Entdeckungen sehnt: Ein Kino, das von den Manipulationen der Medien heilt. Dieses Kino ist mitreißend und faszinierend und hat die Fähigkeit, Sinne und Augen zu öffnen; vergleichbar der Schlange, die ihre Augen niemals schließt.

Die Schlange lässt auch in ihrer Form und ihrer Art der Bewegung an das Kino denken, mühelos assoziiert man sie mit dem abrollenden Filmstreifen. Mit ihrer Geschmeidigkeit, Wandelbarkeit und Unberechenbarkeit ist sie ein Subjekt in ständiger Verwandlung, und in der Lage, sich der Umgebung anzupassen, sich auf die Umwelt einzustellen. In seiner grafischen Gestaltung und an der Oberfläche spielt das Sujet zudem mit unterschiedlichen Bewegungen, die sich in verschiedene Richtungen ausdehnen. Ein weiteres Leitmotiv: gegen die Ränder-Drängen, Räume-Erweitern, sich gegen jede Katalogisierung-Wehren. Diesen Spannungsimpuls auf jenes richtend, das außen, fern vom Zentrum und jenseits der Grenzen steht, haben wir ein Programm zusammengestellt, das unkonventionelle Intentionen erforscht, und das, um möglichst vielen Dingen auf den Grund gehen zu können, auf ausgewogene Weise sowohl etablierte als auch vielversprechende neue Autoren und Autorinnen und Filme aus verschiedenen ökonomischen Kontexten einschließt.

Ein Still aus dem Film NUSJA DHE SHTETRRETHIMI (THE BRIDE AND THE CURFEW) von Kristaq Mitro und Ibrahim Muçaj – 1978 in einem Teil des kommunistischen Jugoslawien gedreht, der heute zu Albanien gehört – dient als Plakatmotiv der diesjährigen, in Kollaboration von Viennale und Filmmuseum entstandenen Retrospektive. Die Auswahl von etwa fünfzig Titeln aus ganz Europa ist einem Genre gewidmet, das nach dem Zweiten Weltkrieg als Resultat geopolitischer Spannungen jahrelang die nationale Kinoproduktion bestimmter Länder repräsentierte.
Diese Retrospektive hat also einen grundlegenden Teil unserer Geschichte zum Inhalt, und sie erzählt davon vermittels von Ideologien, aber auch mit Hilfe politischer Ideen: Ideen, die im Gegensatz zu jenen stehen, die das herrschende System erlaubt, Ideen, die den Geist des Antifaschismus feiern.

O Partigiano! Pan-European Partisan Film präsentiert Filme – 35mm-Kopien aus den wichtigsten europäischen Filmarchiven –, die sich im Ton und in der Absicht unterscheiden, die aber heute mehr denn je der Notwendigkeit von Widerstand und Widerspruch neue Dringlichkeit verleihen können. Wer sich den Details des Programms widmet, wird feststellen, dass sich die Filme gegenseitig wachrufen: Als Stimmen aus unterschiedlichen Teilen der Welt, die über die Auswahl ihrer Themen und in ihrer Suche nach dem Stil miteinander verbunden sind. Als Dialoge zwischen verschiedenen Gegenden und zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Als Filme, die Reisen sind auf der Suche nach den Wurzeln, nach der Geschichte, nach der Identität von Gesellschaften und Individuen. Filme, die sich in tierischer oder pflanzlicher Natur spiegeln, um etwas wiederzufinden, was verloren gegangen ist. Filme, die von der Notwendigkeit erzählen, einander anzuerkennen, einander zu verstehen und jeweilige Verschiedenheiten zu würdigen. Es ist ein Programm, das in der Vielfalt der abgebildeten Stile explizit auch ein Bewusstsein ofenbaren will: für das Kino als Übung und Mittel der Politik. Ein Kino, das in seinem Wesen Erinnerung und Widerstand sein will, heute mehr denn je.

PROGRAMM UND AUFBAU

Die diesjährige Filmauswahl führt die langjährige Tradition des Festivals fort und vereint große Namen mit Neuentdeckungen. Der Aufau bleibt dem bewährten Viennale-Konzept treu, mit der Absicht, das Programm so zu präsentieren, wie es in seiner Ganzheit entworfen wurde: als ein Organismus, in dem ein jedes Element im Dialog mit den anderen steht und dessen Bedeutung immer auch im Detail und in den Einzelteilen steckt. Zu diesem Zweck haben wir über die Sektionen reflektiert und versucht, deren Terminologie wesentlicher zu gestalten.

Im HAUPTPROGRAMM koexistieren verschiedene Stimmen des zeitgenössischen Kinos mit seinen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten, ohne dass bei deren Präsentation auf die Trennung in die überstrapazierten Kategorien von Spielfilm /Dokumentarfilm zurück ge – grifen wird: Wie bereits im vergangenen Jahr sprechen wir auch in diesem über FILM. Über die Filme jener Regisseure und Regisseurinnen, die wir in Wien begrüßen werden, wie Marco Bellocchio, die Gebrüder Dardenne, Lav Diaz und Elia Suleiman. Über die Gewinner der europäischen Festivals, wie SYNONYMES von Nadav Lapid und VITALINA VARELA von Pedro Costa. Über Filme, die im Herbst in Toronto und San Sebastian erstaufgeführt werden, wie ASÍ HABLÓ EL CAMBISTA von Federico Veiroj und VENDRÁ LA MUERTE Y TENDRÁ TUS OJOS von José Luis Torres Leiva. Darüber hinaus über grenzüberschreitende Filme, die sich andere und verschiedenartige Kinowelten eröfnen, wie SERPENTÁRIO von Carlos Conceição, eine filmische Ich-Erzählung aus Angola; LA MISÉRICORDE DE LA JUNGLE des ruandischen Regisseurs Joël Karekezi; HONEYLAND von Tamara Kotevska und Ljubomir Stefanov, der in Mazedonien spielt; und AND THEN WE DANCED des Georgiers Levan Akin.

SYNONYMES, Nadav Lapid, F/Israel/D 2019, V’19, Features | © Viennale

Wir kündigen außerdem die ersten österreichischen Filme an, die auf der Viennale gezeigt werden: LITTLE JOE von Jessica Hausner, DIE DOHNAL von Sabine Derflinger, DIESER FILM IST EIN GESCHENK von Anja Salomonowitz, SPACE DOGS von Elsa Kremser und Levin Peter. Im Herbst in Wien bei der Viennale zu weilen, ist die Gelegenheit, große Filme und große Stimmen zu feiern: Es werden weder VARDA PAR AGNÈS, der letzte Film der kürzlich verstorbenen Meisterregisseurin Agnès Varda fehlen, noch AMAZING GRACE, der die Aufnahmesessions zum gleichnamigen, wegweisenden Album der Königin des Soul, Aretha Franklin, wieder zugänglich macht, die unter anderem von Sydney Pollack gedreht wurden.

LITTLE JOE, Jessica Hausner, A/GB/D 2019, V’19, Features | © Viennale

Die Kurzfilme sind in PROGRAMMEN zusammengefasst, innerhalb derer die verschiedenen Titel miteinander in Kontakt treten.
Die RETROSPEKTIVE ist eine tiefgehende Erforschung eines Zeitraums, einer Produktionsweise, einer filmgeschichtlichen Wirklichkeit. Dieses Jahr besteht sie aus fünfzig Filmen, die nach den zwei Festivalwochen bis in den Dezember hinein in Wien zu sehen sein werden, um dann an andere Orte weiterzureisen.
Die MONOGRAFIEN feiern Regisseure und Regisseurinnen mit einer ausführlichen Erkundung ihres kreativen Schafens; diese Sektion beabsichtigt, zu einem tiefgehenden Verständnis der Poetik der jeweiligen Filmemacher und Filmemacherinnen beizutragen.
Die KINEMATOGRAFIEN sind nach Themen, Tropen oder spezifischen Produktionsweisen geordnete Programme. Wobei die Perspektive auf das Werk eines Regisseurs oder einer Regisseurin, auf eine filmische Wirklichkeit, auf einen Stil oder in eine Richtung gelenkt werden soll, um herauszufinden, was diese über die verschiedenen Möglichkeiten des Kinos aussagen.
Die HISTORIOGRAFIEN schließlich bezeichnen die Möglichkeit, die Geschichte und die Geschichten des Kinos mittels des Kinos selbst zu schreiben, und betonen die fundamentale Bedeutung der Bewahrung und Förderung des Film-Gedächtnisses. Hierunter fallen Filme, die kürzlich von den Filmarchiven der Welt zutage gefördert worden sind, deren Form durch die Restaurierung wiederbelebt wurde und deren Vorführung den Inhalt wiederaufleben lässt.

Auswahl aus dem Hauptprogramm / Programmvorschau

MONOGRAFIEN

ANGELA SCHANELEC
Indirect Cinema


Mit ihrer Auszeichnung bei der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie für ihren neuesten Film ICH WAR ZUHAUSE, ABER …  ist die deutsche Filmemacherin Angela Schanelec auf dem internationalen Parkett der großen FilmkünstlerInnen angekommen. Dabei nimmt ihr Kino bereits von Beginn an eine herausragende Position im Weltkino ein. Ihre strenge und dabei doch gefühlvolle Art, auf oft entfremdete weibliche Protagonistinnen zu blicken, erzählt mit Nachdruck von der Sehnsucht, voll und ganz im Hier und Jetzt zu leben. In ihren bis dato neun Spielfilmen beobachtet Schanelec in episodischen Bewegungen tägliche Abläufe und den Druck der verrinnenden Zeit; oft lernt man dabei eine Gruppe von Menschen etwas näher kennen. Im an Tschechows „Die Möwe“ angelehnten NACHMITTAG etwa eine Familie rund um ein Seehaus, oder in ORLY einige Menschen am titelgebenden Flughafen in Paris. Schanelecs Figuren kämpfen mit persönlichen Unsicherheiten und Zweifeln. Die Aufmerksamkeit, die sie in ihrem Kino den Zuständen des Dazwischen schenkt, eröffnen die Möglichkeit, im Gewöhnlichen das Besondere zu entdecken; das, was außerhalb des Bildes passiert, ist genauso ernst zu nehmen wie das, was zu sehen ist. Schanelec verhandelt in ihrem Werk existenzielle Themen: etwa, was es bedeutet, eine Familie zu gründen oder sich zu verlieben. Schon in ihrem Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, ICH BIN DEN SOMMER ÜBER IN BERLIN GEBLIEBEN, etabliert sie ihre eigene Filmsprache. Darin betrachtet sie die Beziehungsprobleme zweier junger Paare und macht eben genau jene Regungen manifest, die sonst gerne im Verborgenen arbeiten. Schanelecs Filme bieten keine Lösungen, sie stellen Fragen.
In Anwesenheit von Angela Schanelec.

Ich war zuhause, aber, Angela Schanelec, D/SRB 2019, V’19, Monographie | © Viennale

PIERRE CRETON
Die Erde bestellen, filmen


Wenn Ihnen der Name dieses Filmemachers nichts sagt, werden Sie eine schöne Überraschung erleben, sobald Sie seine filmische Welt betreten. Das hat einen präzisen Grund: Pierre Creton ist ein Künstler, dessen Werk wahrhaft unabhängig entsteht, einer, der seine Filme von Beginn an selbst produziert hat – obschon er bald die Aufmerksamkeit der Kritik und von Kollegen und Kolleginnen auf sich gezogen hat (belegen mögen dies die Gastauftritte von Mathieu Amalric und Nicolas Klotz in seinem letzten Film). Filmemacher, Poet, doch hauptsächlich Ackerbauer und Viehzüchter, porträtiert Pierre Creton die Wirklichkeit, die ihn unmittelbar umgibt und deren innewohnende Schönheit er zu vermitteln vermag. Wir haben es bei ihm mit einem unverfälschten Filmkünstler zu tun, einem, der absolut frei ist von den Lastern und den Manierismen des Systems, und der in seinem Schafen daher besonders mutig und konkret sein kann. Die Wurzeln seines Kinos lassen an die Sensibilität anderer französischer Meister wie Éric Rohmer oder Alain Guiraudie denken, an das Werk von Regisseuren, die ihre Figuren und deren Umwelt so sehr lieb(t)en, dass beides sich nicht mehr voneinander trennen lässt. Und die so empfänglich sind und waren, die feinen Bewegungen der Seele und die Zartheit menschlicher Beziehungen wahrzunehmen. Bei Creton sind Kunst und Leben untrennbar ineinander verschränkt, und „leben“ bedeutet, sich gegenüber neuen Situationen und Begegnungen zu öffnen – nicht zuletzt, um Erfahrungen zu machen, die möglicherweise in einen kommenden Film einfließen können. Weil als Filmemacher zu arbeiten eben auch heißt, um sich herum eine lebenswerte Welt zu schaffen, in der man gemeinsam Gedanken, Wünsche, Absichten und Freundschaften teilt und Landarbeiter wie Dichter, Leute von fern und nah, Ansässige und Zuwanderer miteinbezieht. Cretons Kino ist daher – in der sozialen Bedeutung des Begriffs – zutiefst politisch.
In Anwesenheit von Pierre Creton.

LE BEL ÉTÉ (Beautiful Summer), Pierre Creton, F 2019, V’19, Monographie | © Viennale

ALA EDDINE SLIM
Kino an den Rändern


Die Arbeiten des in Sousse, Tunesien, geborenen Ala Eddine Slim entstammen unterschiedlichen Genres: dem Dokumentarfilm, der Videokunst oder – wie seine letzten beiden Langfilme – dem anspruchsvollen Erzählkino. Er interessiere sich für ein Kino an den Rändern, erklärt er; ein Interesse, das sich in der Tiefgründigkeit der von ihm gewählten Themen ebenso widerspiegelt wie in seiner Erkundung verschiedener Stile. In seinem breit gefächerten Werk kehren einige Leitmotive immer wieder: das Problem der Grenzen, der realen wie imaginären Territorien, der Militarisierung, der Illegalität, der Einsamkeit und des Rückzugs. BABYLON dokumentiert die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Arabischen Frühlings in Libyen im Jahr 2012 auf das Nachbarland Tunesien. Während sich im Flüchtlingslager eine internationale Bevölkerung aus Vertriebenen, Reporter und Reporterinnen und humanitären Helfer und Helferinnen ansammelt, stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit die Aufgabe, diese gärende Lebendigkeit filmisch einzufangen. Der gemeinsam mit Youssef und Ismaël Chebbi gedrehte Film stellt sowohl auf inhaltlicher wie auf Produktionsebene ein vielstimmiges Unterfangen dar, das mit Frische und Offenheit über den Beginn einer neuen Phase in der arabischen Welt berichtet. Stilistisch erinnert es zudem an Kurzfilme, die Slim für Installationsräume kreiert hat. Erstmals Aufsehen erregte Ala Eddine Slim 2016, als er in Venedig sein Spielfilmdebüt AKHER WAHED FINA (THE LAST OF US) vorstellte. Ein mysteriöser und fesselnder Film, der mit der Illusion des Raumes und mit geografischen Bezügen spielt, und in dem der Protagonist mit seiner Umgebung entweder verschmilzt oder sich in ihr verirrt. Diese Elemente lassen sich auch in Slims bislang letztem Werk wiederfinden, das in Cannes’ „Quinzaine des Réalisateurs“ präsentiert wurde: TLAMESS (ein Begriff, der eine Art von Zauberei bezeichnet) ist eine allegorische und mysteriöse Reise, die die beiden Protagonisten einer Transformation unterzieht. Es ist dies auch die Quintessenz der filmischen Welt des Filmemachers: Ein Kino in stetiger Verwandlung, das doch nie die Zusammenhänge aus den Augen verliert. Slims Kino ist ein atmosphärisches und an Schau – plätzen reiches Kino, kraftvoll und üppig, dessen Gesten politische Gegebenheiten wie filmische Erfahrungen gleichermaßen in Erinnerung rufen – und in dem mitunter auch Reminiszenzen an Meister wie Stanley Kubrick Platz haben. In Anwesenheit von Ala Eddine Slim.

Tlamess, Ala Eddine Slim, Tunesien/F 2019, V’19, Monographie | © Viennale

SÍLVIA DAS FADAS
Auf der Suche nach Geistern und Bildern

Sílvia das Fadas aus Coimbra in Portugal arbeitet als Filmemacherin, Forscherin und Lehrerin. Seit ihrer Zeit an der Cinemateca Portuguesa in Lissabon und ihrem Studium am California Institute of the Arts hat sie sich ganz dem analogen Material verschrieben und dreht ihre Filme auf 16mm. Interessiert an Legenden und Volkstümlichem erkundet sie in dokumentarisch-essayistischen Bewegungen das, was sich davon in der wirklichen Welt als Spuren und Überbleibsel abdrückt. In SQUARE DANCE, LOS ANGELES COUNTY, CALIFORNIA, 2013 setzt sie sich mit wiedergefundenen Fotografien von Russell Lee auseinander. Diese im Auftrag der Farm Security Administration aufgenommenen Bilder zeigen einen Tanzabend im bäuerlichen Milieu. Der Film erweckt diese Bilder mit Bewegungen und Musik zum Leben. Sílvia das Fadas Filme entstehen in Erkundungen. Alleine mit ihrer Kamera macht sie sich auf den Weg in die Wirklichkeit oder ins Archiv. Sie sucht nach Geistern und Bildern. In ihrer Hinwendung an das Material erzählt sich mehr als eine militante Nostalgie. Stattdessen verweist ihr Schaffen auf eine mögliche Zukunft des Kinos. In ihrem über mehrere Jahre entstandenen A CASA, A VERDADEIRA E A SEGUINTE, AINDA ESTÁ POR FAZER besucht sie außergewöhnliche architektonische Konstruktionen in Frankreich, den USA, Großbritannien, Belgien, Italien und Rumänien. Mit sicherem Gespür für geometrische Schönheit filmt sie diese Orte, die allesamt eine andere, utopische Form des Zusammenlebens kommunizieren. Sie sammelt Bilder, um sie zu teilen.
In Anwesenheit von Sílvia das Fadas.

KINEMATOGRAFIEN

BRASILIEN ENTFLAMMT!
Eine Roadmap des brasilianischen Kinos


Das Konzept einer „nationalen Kinematografie“ ist ein grundsätzlich trügerisches, insofern Film wie FilmemacherInnen sich immer in Bewegung befinden und eine gemeinsame Filmsprache allenfalls in einem Prozess entwickelt wird, der unterschiedliche Dialekte kennt. Insofern bildet die vorliegende Auswahl, der territorialen wie ästhetisch-stilistischen Heterogenität unabhängigen brasilianischen Filmschaffens zum Trotz, unterschiedliche Facetten einer brasilianischen Malaise ab, deren politische Eckpfeiler von den beiden Polen Lula da Silva und Bolsonaro markiert werden. Der Grund für die Wahl dieser Filme ist der Versuch, einen Moment im brasilianischen Kino zu skizzieren, der Anfang dieses Jahrhunderts beginnt und sich im letzten Jahrzehnt verdichtet. Sie ermöglichen es uns, die poetischen und politischen Veränderungen in dieser Zeit zu verstehen. So konzentrieren sich einige Filme auf die jüngste politische Situation, während sich andere mit Klassenunterschieden befassen. Wiederum andere greifen die stets latent vorhandene Rassenfrage auf, untersuchen die Präsenz indigener Völker in der brasilianischen Gesellschaft, richten den Fokus auf den Kampf um Landbesitz und folgen der sich stets ändernden Identität eines heterogenen Volkes. Zudem haben wir einige Titel von FilmemacherInnen der Vergangenheit inkludiert, die einen indirekten Widerhall in den Empfindungen und Phantasien neuer RegisseurInnen dieses Jahrhunderts finden. Titel, die auch verdeutlichen, dass die FilmemacherInnen von heute die Filmtraditionen ihres Landes nicht vergessen haben. Dies ist eine Kartografie des zeitgenössischen brasilianischen Kinos, eine Möglichkeit, einen Einblick in all das zu gewinnen, was in Nachrichten, Berichten und Statistiken nie vollständig dargestellt werden kann. Brasilien brennt, und seine Wut, Trostlosigkeit, Sehnsucht, Gewalt, Hoffnung, Unterdrückung und Freude werden in der schönen Sprache des Kinos festgehalten, die uns erlaubt, alles auf eine andere Art und Weise zu sehen.

DER WEIBLICHE BLICK
Die Wiederentdeckung der Filme von Louise Kolm-Fleck

In einer von Anbeginn männlich dominierten Branche etablierte die Wiener  Filmpionierin Louise Kolm-Fleck (1873–1950) erstmals eine österreichische Filmproduktion, gründete mit der Vita-Film den damals größten Atelierkomplex  Europas und brachte mit Themen wie Vergewaltigung, Abtreibung und  Impotenz  spezifisch weibliche Perspektiven in das Kino der Stummfilmzeit. Die nun vom Filmarchiv Austria in weltweiten Recherchen wiederentdeckten und neu restaurierten Filme zeigen eine Regisseurin, die die filmische Grammatik bravourös beherrscht und ihre Geschichten meisterhaft umzusetzen weiß. Sie zeigen vor allem eine Autorin von überraschender Aktualität, deren emphatischer Blick ihren in einem männlich dominierten Umfeld agierenden Protagonistinnen gilt. Louise Kolm-Fleck, Tochter des Besitzers des Wiener Stadtpanoptikums Louis Veltée, Enkelin eines Kunstfeuerwerkers, schrieb mindestens zwei Dutzend Drehbücher und führte weit über 100 Mal Regie. Das Leben der ersten österreichischen Regisseurin liest sich wie eine Parabel auf die österreichische Filmgeschichte: der rasante Aufstieg des Stummfilms, die goldene Zeit in den 1920er-Jahren, der Wechsel zum Tonfilm, die Vertreibung von Filmschaffenden durch die Nationalsozialisten, das  Vergessen nach 1945. Noch im Exil in Schanghai gelingt es ihr, mit ihrem zweiten Mann Jakob Fleck einen Film zu realisieren. Im österreichischen Nachkriegsfilm kommt sie nicht mehr zu Wort. In der vom Filmarchiv Austria kuratierten ersten Werkschau zeigen die wiederentdeckten Arbeiten eine beeindruckende Filmkünstlerin, die es neu zu bewerten gilt.

RETROSPEKTIVE

O PARTIGIANO!
Pan-European Partisan Film

Die gemeinsame Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums und der Viennale widmet sich unter dem Titel „O Partigiano!“ dem Partisanenfilm. Zwischen den 1940er und den 1980er Jahren entstanden europaweit, vom Westen über die neutralen und blockfreien Staaten bis in die Sowjetunion Filme, die über den bewaffneten zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen den Faschismus erzählten: als „Gründungsmythos“ der jeweiligen Nachkriegsordnung und als Stütze sich neu formierender nationaler (oder paneuropäischer) Identitäten. Vor allem in den sozialistischen Staatenbünden der Sowjetunion und Jugoslawiens spielte der Partisanenfilm eine wichtige Rolle. Dieses Filme waren für die sozialistischen Filmindustrien das, was der Western für das Hollywoodkino war: das bestimmende Genre seiner Zeit und ein bedeutsames Mittel, um dunkle Flecken der Zeitgeschichte umzudeuten oder gar „weißzuwaschen“. Und wie der Western verlor auch der Partisanenfilm zunehmend an Mainstream-Relevanz, um sich in den 1960er und 1970er Jahren ideologiekritisch neu zu erfinden. Zu ihrer Entstehungszeit und im jeweiligen nationalen Kontext populär, sind diese Filme bis auf wenige gefeierte Einzelwerke heute nahezu unbekannt. „O Partigiano!“ erlaubt es erstmals, das Erbe des Partisanenfilms in all seiner ästhetischen Vielfalt und in seinem historisch-politischen Kontext zu entdecken: mit Filmen aus 20 Ländern und einer Vielzahl von Archiven, in raren Filmkopien und begleitet von einer englischsprachigen Publikation. Die Bandbreite reicht vom neorealistischen Drama und bombastischen Militärspektakel bis zum Musical und der Komödie. Was wir dabei sichtbar machen wollen, ist weniger ein Genre als eine Idee: wie das Kino über die Blockgrenzen hinweg dazu beiträgt, aus der gemeinsamen Erfahrung der Überwindung des Faschismus und der Gräuel des Naziterrors neue Werte und Identitäten zu schaffen. Können wir den Partisanenfilm als eine Art Keimzelle eines europäischen Nachkriegskinos verstehen? Und was bedeutet uns dieses Kino zu einer Zeit, in der die Grundpfeiler des europäischen Nachkriegsprojekts in Frage gestellt werden und illiberale und autoritäre Rhetorik zunehmend Boden gewinnt? In jedem Falle bietet unsere Retrospektive die Gelegenheit, dieses nahezu vergessene Kapitel der Filmgeschichte im Kino wiederzuentdecken: als ästhetisch und erzählerisch herausragende Kunstwerke und als Zeitdokumente einer Ära, in der man einen Faschisten noch ungestraft als solchen bezeichnen konnte. (Michael Loebenstein, Jurij Meden)

EIN PROGRAMM VON VIENNALE UND ÖSTERREICHISCHEM FILMMUSEUM
25. Oktober bis 4. Dezember 2019
Österreichisches Filmmuseum, Augustinerstraße 1, 1010 Wien
www.filmmuseum.at

FILME DER RETROSPEKTIVE

1 homme de trop (Shock Troops), Costa-Gavras, France/Italy, 1967
Akcja pod Arsenałem (Operation Arsenal), Jan Łomnicki, Poland, 1978
Atentát (Assassination), Jiří Sequens, Czechoslovakia (Czech Republic), 1965
Balada o trobenti in oblaku (The Ballad of the Trumpet and the Cloud), France Štiglic, Yugoslavia (Slovenia), 1961
La Bataille du rail (The Battle of the Rails), René Clément, France, 1946
Bitka na Neretvi (The Battle of Neretva), Veljko Bulajić, Yugoslavia (Bosnia and Herzegovina), 1969
Blekitny krzyz (Men of Blue Cross), Andrzej Munk, Poland, 1955
Corbari, Valentino Orsini, Italy, 1970
Čerez kladbišče (Through the Graveyard), Viktor Turov, Soviet Union (Belarus), 1964
Diverzanti (Demolition Squad), Hajrudin Krvavac, Yugoslavia (Bosnia and Herzegovina), 1967
Dolina miru (Valley of Peace), France Štiglic, Yugoslavia (Slovenia), 1956
Am Galgen hängt die Liebe (Twenty Brave Men), Edwin Zbonek, Germany, 1960
Hajka (Manhunt), Živojin Pavlović, Yugoslavia (Serbia), 1977
Idi i smotri (Come and See), Elem Klimov, Soviet Union (Belarus), 1985
Kad čuješ zvona (When You Hear the Bells), Antun Vrdoljak, Yugoslavia (Croatia), 1969
Kanal, Andrzej Wajda, Poland, 1957
Kapitán Dabač (Captain Dabač), Pal’o Bielik, Czechoslovakia (Slovakia), 1959
Kozara, Veljko Bulajić, Yugoslavia (Bosnia and Herzegovina), 1962
Makedonski del od peklot (Macedonian Part of Hell), Vatroslav Mimica, Yugoslavia (Macedonia), 1971
Molodaja gvardija (The Young Guard), Sergej Gerasimov, Soviet Union (Russia) 1948
Muži bez křídel (Man without Wings), František Čap, Czechoslovakia (Czech Republic), 1946
Nasvidenje v naslednji vojni (Farewell until the Next War), Živojin Pavlović, Yugoslavia (Slovenia), 1980
Ne okreći se, sine (Don’t Look Back, My Son), Branko Bauer, Yugoslavia (Croatia), 1956
Ni liv (Nine Lives), Arne Skouen, Norway, 1957
Nusja dhe shtetrrethimi (The Bride and the Curfew), Kristaq Mitro & Ibrahim Muçaj, Albania, 1978
‘O sole mio, Giacomo Gentilomo, Italy, 1946
Ouranos (Glory Sky), Takis Kanellopoulos, Greece, 1962
Proverka na dorogah (Trial on the Road), Aleksej German, Soviet Union (Russia), 1971
Le quattro giornate di Napoli (The Four Days of Naples), Nanni Loy, Italy, 1962
Raduga (Rainbow), Mark Donskoj, Soviet Union (Ukraine), 1944
De røde enge (The Red Meadows), Bodil Ipsen & Lau Lauritzen Jr., Denmark, 1945
Roma città aperta (Rome, Open City), Roberto Rossellini, Italy, 1946
Sekretar rajkoma (The District Secretary), Ivan Pirijev, Soviet Union (Russia), 1942
Gli sbandati (The Abandoned), Francesco Maselli, Italy, 1955
Slavnij malij (A Good Lad), Boris Barnet, Soviet Union (Russia), 1942
Sovist (Conciousness), Vladimir Denišenko, Soviet Union (Ukraine), 1968
Sutjeska (Battle of Sutjeska), Stipe Delić, Yugoslavia (Bosnia and Herzegovina), 1973
Trenutki odločitve (Moments of Decision), František Čap, Yugoslavia (Slovenia), 1955
U gori raste zelen bor (The Pine Tree in the Mountain), Antun Vrdoljak, Yugoslavia (Croaria), 1971
Valter brani Sarajevo (Valter Defends Sarajevo), Hajrudin Krvavac, Yugoslavia (Bosnia and Herzegovina), 1972
Zvony pre bosých (The Bells Toll for the Barefooted), Stanislav Barabáš, Czechoslovakia (Slovakia), 1965

VIENNALE 2019
24. Oktober bis 6. November

Gesamtes Programm online: 15. Oktober, 20 Uhr
Start des Vorverkaufs: 19. Oktober, 10 Uhr

www.viennale.at

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