VIENNALE 2023: EIN ERSTER AUSBLICK AUF DAS DIESJÄHRIGE PROGRAMM

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VIENNALE 2023: EIN ERSTER AUSBLICK AUF DAS DIESJÄHRIGE PROGRAMM


Im vergangenen Jahr feierten wir das Jubiläum der sechzigsten Viennale-Ausgabe, in diesem Jahr feiern wir zum einundsechzigsten Mal die Filmkunst – mit vollem Programm und sämtlichen Aktivitäten, die ein Festival ausmachen. In erster Linie freilich im Kino mit Filmen, aber auch in den rundherum eingerichteten Räumen in dazugehörigen Begleitveranstaltungen. Die Viennale Zentrale kehrt in die Kunsthalle zurück, mit musikalischen Events, Talks und Meetings, mit Veranstaltungen für Fachleute wie Kinoliebhaber:innen gleichermaßen. Sie wird damit neuerlich ein Ort der Begegnung sein, generationenübergreifend, für das Wiener Publikum, für auswärtige Viennale-Besucher:innen und natürlich für unsere Filmgäste aus aller Welt. Und neuerlich widmen wir der Filmkritik einen gebührenden Bereich. Zum Beispiel in Gestalt eines Workshops, in dem vier junge Kritiker:innen sich im Rahmen unterschiedlicher Aktivitäten während des Festivals weiterbilden und beruflich vernetzen können. Mit diesem Young Critics’ Circle wird nicht nur die Kreativität der jungen Fachleute gefördert, sie leisten auch selbst einen Beitrag zum Festival, insofern ihre Betrachtungen und Texte dem Publikum zugänglich gemacht werden. Außerdem wird es genügend Raum für Diskussionen zwischen Publikum und Branchenvertreter:innen geben; auf diese Weise soll das Angebot, das die Filmkritik allen Kinobegeisterten macht, in den Fokus gerückt werden: Reflexion, Nachdenken, Austausch und Dialog. Zu den Höhepunkten in dieser Hinsicht wird die Podiumsdiskussion zählen, bei der der renommierte rumänische Filmemacher Radu Jude und mehrere erfahrene Kritiker:innen aufeinander treffen und über Judes jüngstes, großartiges Werk DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD (NU AȘTEPTA PREA MULT DE LA SFÂRȘITUL LUMII) diskutieren werden.

Das diesjährige Sujet dreht sich zur Gänze um das Thema Licht. Das Licht macht Details sichtbar und (be)greifbar, bringt eine Figur und deren Form zum Vorschein, legt jedoch gleichzeitig auch unterschiedliche Interpretationen nahe, die sich wandeln, je aufmerksamer das Bild betrachtet wird. Das Licht durchdringt und umspielt die organische Materie und betont ihre Veränderlichkeit. Das Material für dieses Sujet kommt ursprünglich aus der Welt der Wissenschaft, der Forschung – was erneut zeigt, welche Schönheit die Begegnung zwischen Technologie und lebenden Formen zutage fördern kann. Licht, Form, Forschung, Technologie und Leben – das sind auch Schlüsselbegriffe für die Welt des Kinos. Indem sie all seine analytische Kraft auf den Punkt bringt und seine Wandelbarkeit deutlich macht, steht diese Darstellung sinnbildlich für das Offenbarungspotenzial, das dem Medium Film zugrunde liegt.

Mehr als einer Generation gilt der 1975 in Buenos Aires geborene, ikonische Regisseur Lisandro Alonso als Erneuerer des lateinamerikanischen Kinos. Die formale Stärke und suggestive Kraft seiner bislang sechs Features – LA LIBERTAD (2001), LOS MUERTOS (2004), FANTASMA (2006), LIVERPOOL (2008), JAUJA (2014) und schließlich der in diesem Jahr bei den Filmfestspielen in Cannes vorgestellte EUREKA – entstehen aus einer poetischen und philosophischen Kohärenz, die es ermöglicht, sich von der Erzählprogression zu lösen, ohne dass dabei der Zusammenhang verlorengeht.

Die Beiträge der ihm gewidmeten TEXTUR #6 stammen unter anderem von den Kurator:innen Olivier Père und Cecilia Barrionuevo, den Filmkritiker:innen Lucía Salas und Quintín sowie den Filmprofis Miguel Gomes und Viggo Mortensen.

AUSWAHL AUS DEN FEATURES:
ADENTRO MÍO ESTOY BAILANDO – Leandro Koch, Paloma Schachmann, Österreich, Argentinien 2023 ANATOMIE D’UNE CHUTE – Justine Triet, Frankreich 2023
DIE ÄNGSTLICHE VERKEHRSTEILNEHMERIN – Martha Mechow, Österreich, Deutschland 2023
ANIMAL – Sofia Exarchou, Griechenland, Österreich, Rumänien, Zypern, Bulgarien 2023
ANSELM – DAS RAUSCHEN DER ZEIT – Wim Wenders, Deutschland 2023
CERRAR LOS OJOS – Víctor Erice, Spanien, Argentinien 2023
CLUB ZERO – Jessica Hausner, Österreich, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Dänemark 2023 COSMOSAPIENS – Pavel Cuzuioc, Österreich, Russische Föderation 2023
EL ECO – Tatiana Huezo, Mexiko, Deutschland 2023
L’ETE DERNIER – Catherine Breillat, Frankreich 2023
EUREKA – Lisandro Alonso, Argentinien, Deutschland, Frankreich, Mexiko, Portugal 2023
EUROPA – Sudabeh Mortezai, Österreich 2023
LE GRAND CHARIOT – Philippe Garrel, Frankreich, Schweiz 2023
HERE – Bas Devos, Belgien 2023
JOAN BAEZ – I AM A NOISE – Karen O’Connor, Miri Navasky, Maeve O’Boyle, USA 2023
NOTAS PARA UNA PELÍCULA – Ignacio Agüero, Chile, Frankreich 2022
NOTRE CORPS – Claire Simon, Frankreich 2023
NU AȘTEPTA PREA MULT DE LA SFÂRȘITUL LUMII – Radu Jude, Rumänien, Luxemburg, Frankreich, Kroatien 2023
PERFECT DAYS – Wim Wenders, Japan, Deutschland 2023
PERPETRATOR – Jennifer Reeder, USA, Frankreich 2023
RAPITO – Marco Bellocchio, Italien, Frankreich, Deutschland 2023
ROTER HIMMEL – Christian Petzold, Deutschland 2023
DIE THEORIE VON ALLEM – Timm Kröger, Deutschland, Österreich, Schweiz 2023

KINEMATOGRAFIE
WIDERSTAND, ERINNERUNG, NEUERFINDUNG – Fünfzig Jahre Chilenischer Film

2023 jährt sich der Putsch, mit dem General Pinochets Diktatur in Chile begann, zum 50. Mal – ein schwerwiegendes Ereignis, das den kreativen Impuls ganzer Generationen in unterschiedlicher Weise prägte. Allerdings war dieser Jahrestag, so denkwürdig er auch ist, nicht der Hauptgrund für diesen Programmschwerpunkt.

Vielmehr wollen wir den Reichtum und die Vielfalt des chilenischen Filmschaffens der vergangenen Jahrzehnte bezeugen; eines Filmschaffens, das durchdrungen ist von ideologischen Motivationen, gesellschaftlichen Erfahrungen sowie dem Geist der gemeinsamen Erinnerung. Wir präsentieren Filme international anerkannter Persönlichkeiten des lateinamerikanischen und/oder chilenischen Kinos wie Patrizio Guzmán und Valeria Sarmiento.

Wir zeigen weniger bekannte Arbeiten bekannter Filmemacher wie etwa Sebastián Lelio und Miguel Littín. Und nicht zuletzt viele weitere Werke, die es endlich zu entdecken gilt. 25 Filme in 15 Programmen, die in Verbindung mit der diesjährigen Retrospektive des Werkes von Raúl Ruiz eine Referenz nicht nur für das lateinamerikanische, sondern auch für das formal avantgardistische Kino darstellen.

In seiner Gesamtheit ein beeindruckendes Programm, geboren aus dem Dialog der beiden Verantwortlichen – der chilenischen Regisseurin Dominga Sotomayor und Haden Guest, dem Direktor des Harvard Film Archive –, und im Austausch miteinander Übereinstimmungen, Parallelen, Korrespondenzen entdeckend. Kuratiert von Dominga Sotomayor und Haden Guest.

KINEMATOGRAFIE
KEINE ANGST – Österreichisches Kino der 80er Jahre

Ganz generell gehen die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wohl nicht als beste Zeit für die Menschen in die Geschichte ein: Der Konflikt zwischen West und Ost bäumt sich noch einmal heftig auf, Umweltkatastrophen, AIDS und die Angst vor dem nuklearen Super-GAU sind allgegenwärtig, neoliberale und konservative Politiker an den Schalthebeln der Macht. Österreich, die kleine Insel der Seligen, bildet da keine Ausnahme: Ein Jahrzehnt, geschüttelt von Skandalen und Affären, Nährboden für vieles, was da noch kommen wird.

Das heimische Kino befindet sich gerade in einer Umbruchsphase: Im neu gegründeten Filmförderungs Österreich (ab 1981) werden auch die Karten neu gemischt. An die Stelle der meist autodidaktischen „Austrian Auteurs“ der 1970er Jahre, denen wir 2020 unseren CHILE, LA MEMORIA OBSTINADA ANGST Schwerpunkt widmeten, tritt nun eine Generation „professioneller“ Filmemacher:innen, die ihr Handwerk an der Akademie erlernt haben.

Darüber hinaus etabliert sich in urbanen Räumen eine die Filmkultur im Lande generell bereichernde Programmkino-Szene. Ausgehend von der Neu-Restaurierung des seit seiner Uraufführung 1983 in Österreich nicht mehr gezeigten Kultfilms ANGST von Gerald Kargl, die im Rahmen dieses Schwerpunkts erstmals zu sehen sein wird, beleuchtet das Filmarchiv Austria in 15 Programmen (fünf davon auf der Viennale) die Ängste einer Gesellschaft, aufgerieben zwischen „No Future“ und leeren Durchhalteparolen: Darin sind uns die 80er Jahre heute vermutlich näher als uns lieb ist. KEINE ANGST lautet dabei im Umkehrschluss unser Motto, Hansi Langs gleichnamiger Hymne auf ein Lebensgefühl entnommen, und Einladung ans Publikum, sich mit uns auf diese Zeitreise zurück zu den Wurzeln des Neuen Österreichischen Films zu begeben. EIN PROGRAMM DES FILMARCHIV AUSTRIA.

MONOGRAFIE
NICOLAS KLOTZ UND ELISABETH PERCEVAL – Radikaler Mut

Die Filme von Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval sind Weltwerke. Zum einen, weil sie konkrete Streifzüge durch die Welt in all ihrer Vielfalt darstellen. Zum anderen, weil sie die Erfahrungen und den kulturellen Hintergrund der Menschen, denen sie begegnen und von denen sie erzählen, gleichsam in sich aufsaugen und dokumentieren.

Klotz und Perceval beschreiben unsere Welt über das Unrecht, das den Schwächsten und Ausgegrenzten in ihr widerfährt. Sie fordern Gerechtigkeit und versuchen, ihre eigene eurozentrische Sicht in einen großzügigen, universellen Humanismus umzukehren. Im Lauf der Zeit haben sie daher sowohl für das Verfassen der Drehbücher wie auch für die Dreharbeiten selbst eine Methode entwickelt, die es ermöglicht, die Filmform ebenso wie die Umwälzungen unserer heutigen Welt zu hinterfragen.

Ihre Filme stellen den Menschen dar, der durch die soziale Organisation – von der Gesellschaft bis zu den staatlichen Institutionen, die ihn oft nicht unterstützen, sondern zu brechen versuchen – verletzbar gemacht und gefährdet wird. Die Revolution, die die beiden beschwören, liegt nicht in den Absichten sondern in den Ausdrucksformen einer Art des Filmemachens, die Motivation und ästhetisches Bewusstsein gleichzeitig vorantreibt. Damit stehen Klotz und Perceval in einer zutiefst pragmatischen philosophischen Tradition, der etwa auch Simon Weil, Robert Bresson und Jean-Luc Godard angehören. Ein politisches wie ethisches Kino unserer Zeit, dessen Bühne die ganze Welt ist. Die Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval gewidmete Monografie umfasst neun Programme, gegliedert in drei zeitliche Abschnitte, welche verschiedene Schaffensphasen repräsentieren. Am Beginn steht LA NUIT BENGALI, der erste Film in Cinemascope, der in den Studios des indischen Meisters Satyajit Ray gedreht wurde. Es folgen die „Les temps modernes“ sowie die in Flüchtlingslagern gedrehten Filme, darunter L’HEROIQUE LANDE, LA FRONTIERE BRULE, und endet mit NOUS DISONS REVOLUTION.

RETROSPEKTIVE
RAÚL RUIZ

Raúl Ruiz – geboren 1941 in Chile, seit kurz nach dem Putsch von 1973 in Frankreich im Exil, 2011 dort verstorben – ist zwar in erster Linie für sein Filmschaffen bekannt, war aber darüber hinaus auch ein äußerst produktiver, belesener und innovativer Künstler, in dessen Arbeiten unterschiedlichste Orte, Stile und ästhetische Traditionen aufeinandertreffen. Er war nicht nur Regisseur von über hundert Filmen – Features, Shorts, Fernsehserien, Videos –, sondern verfasste auch zwei Bücher über Filmtheorie sowie belletristische Werke, die sich gängiger Genreeinteilung entziehen … ein äußerst vielseitiges Schaffen! Darüber hinaus war Ruiz als Theaterautor und -regisseur tätig, konzipierte und organisierte eine Radiosendung und kuratierte eine Multimedia-Ausstellung. Seine Filme wurden regelmäßig bei den renommierten Festivals in New York, Cannes, Rotterdam und Toronto gezeigt.

Dieser Erfolge zum Trotz ist Ruiz’ umfangreiches Werk allzuwenig bekannt und erforscht. Jahrelang galt er als elitärer Filmemacher, der in der europäischen und lateinamerikanischen Filmindustrie eine Randstellung einnimmt. Und bei aller Wertschätzung, die er unter Kritiker:innen und Filmwissenschaftler:innen genoss, waren der Zugang zu seinen Werken und das Engagement der Fachwelt aufgrund des experimentellen Charakters seiner Kunst sowie der geringen kommerziellen Verbreitung seiner Filme begrenzt. Dabei weckte seine kompromisslose künstlerische Experimentierfreudigkeit doch zugleich das Interesse internationaler Filmstars wie Marcello Mastroianni, Catherine Deneuve, Melvil Poupaud und John Malkovich.

Ruiz’ enorme Bedeutung für die Welt des Films sowie das endlich doch noch wachsende Interesse an seinen Arbeiten sind aber vor allem auf sein Vermächtnis als cineastisches Multitalent zurückzuführen. Publikum, Kreative und Filmwissenschaftler:innen kommen immer wieder auf seine Werke zurück, weil diese unablässig die Frage aufwerfen, was Kino überhaupt sein kann – besonders in einer Zeit, in der es zunehmend als eine von Fernsehen, Streamingdiensten und anderen neuen Medien bedrohte Kunstform angesehen wird. Im Rahmen dieser großzügigen Retrospektive des Œuvres eines großartigen Filmkünstlers werden rund vierzig Arbeiten gezeigt, darunter auch Werke, die dank des Engagements von Ruiz’ Mitarbeiter:innen wie etwa seiner Frau und oftmaligen Schnittmeisterin Valeria Sarmiento sowie der Produzentin und Schauspielerin Chamila Rodríguez erst vor kurzem restauriert beziehungsweise vollendet wurden. Wie zum Beispiel EL REALISMO SOCIALISTA COMO UNA DE LAS BELLAS ARTES (1973/2023), der lange nur in fragmentarischer Form vorhanden war und nun endlich komplettiert worden ist.
EIN PROGRAMM VON VIENNALE UND ÖSTERREICHISCHEM FILMMUSEUM
20. Oktober 2023 bis 10. Januar 2024
Österreichisches Filmmuseum, Augustinerstraße 1, 1010 Wien Tel. 01/533 70 54 • filmmuseum.at

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