Das FILMFEST MÜNCHEN zieht Bilanz: rund 80.000 BesucherInnen, mehr Branchenveranstaltungen denn je und erfolgreiche Livestreams.
Eine eigene Sprache zu finden, sich selbst treu zu bleiben, Widerstand zu leisten. All das verbindet die vier kompromisslosen Ehrengäste des 36. FILMFEST MÜNCHEN: Emma Thompson, Terry Gilliam, Lucrecia Martel und Philip Gröning wie auch die zahlreichen weiteren internationalen Gäste – unter ihnen etwa Jia Zhang-ke, Jennifer Fox, Margarethe von Trotta und Alice Rohrwacher, die mit ihren Filmen nach München kamen. Zehn aufregende, filmreiche Tage sind vergangen, in denen viel geschaut, geredet, getanzt – und kontrovers diskutiert wurde. Es waren nicht nur die 220 Filme, welche die insgesamt rund 80.000 BesucherInnen begeistert haben, sondern auch die vielfältigen FILMMAKERS LIVE!-Gespräche, die in diesem Jahr erstmalig auch live im Netz ausgestrahlt wurden, wie etwa die Diskussionsrunden zur Zukunft des deutschen Film- und Serienmarkts oder die Gespräche mit internationalen Gästen. Eine Neuerung, die vom Publikum und der Netzgemeinde gerne genutzt wurde. Die Livestreams der FILMMAKERS LIVE!-Panels erreichten über die Filmfest München Facebook Fanpage insgesamt rund 73.000 Personen übers Internet. Auch der neue Partner TELE 5 konnte mit seiner täglichen Kurzberichterstattung eine Reichweite von 100.000 bis 200.000 Zuschauer*innen erzielen. Und nicht zuletzt für die Branche wird das FILMFEST MÜNCHEN immer wichtiger: In diesem Jahr fanden rund zehn Prozent mehr Branchenevents statt als im vergangenen Jahr.
In vielen Gesprächen ging es immer wieder darum, die eigene filmische Handschrift und Sprache zu finden – manchmal vielleicht auch sperrig und widerständig zu erzählen. Aber es geht auch um Zeit – ein prominentes Thema in vielen Filmen auf dem FILMFEST MÜNCHEN. Zeit, die es braucht, bis sich ein Werk realisieren lässt, eine Figur sich entwickelt, eine Handlung sich auf der Leinwand entspinnt. Zeit, die sich das Publikum nimmt, um in andere Welten abzutauchen. Zehn Tage lang machte das Filmfest das wieder einmal für sein Publikum möglich.
Der Blick in die Zukunft, wie es im Vorwort des diesjährigen Filmfest-Magazins heißt, fällt hoffnungsvoll und innovativ aus, nicht nur was neue Projekte und Strömungen auf dem Markt angeht, sondern auch hinsichtlich des Filmfests selbst. Die angekündigte Budgeterhöhung von drei Millionen Euro ist dabei für das FILMFEST MÜNCHEN ein Grund mehr, mit offenen Augen und neuen Ideen in die Zukunft zu blicken – oder wie Filmfest-Leiterin Diana Iljine es formuliert:
„Ich bin glücklich, dass wir in den vergangenen zehn Tagen wieder herausragende Filme, wunderbare Menschen, neue Ideen und durchaus auch Glamour in die Stadt bringen konnten. Das FILMFEST MÜNCHEN war auch dieses Jahr wieder ein großer Erfolg. Und so wie Filme immer ein Gemeinschaftswerk sind, kann auch ein Festival nur von vielen gestaltet werden. Es ist eine Teamleistung und ich danke allen Mitarbeiter*innen für ihre Arbeit und ihr Herzblut! Und wie beim Fußball gilt auch bei uns: Nach dem Festival ist vor dem Festival. Dass wir nun die Chance haben, das FILMFEST MÜNCHEN in den kommenden Jahren weiter zu entwickeln und neu zu positionieren, ist eine Herausforderung, die wir gerne annehmen und auf die mein Team und ich uns sehr freuen.“
Mit einer feierlichen Preisverleihung ging das 36. Internationale FILMFEST MÜNCHEN am Samstag, den 7. Juli 2018 zu Ende. Zum Abschluss des Filmfests wurde nach der Preisverleihung der Science-Fiction-Thriller „Anon“ von Andrew Niccol als Deutschlandpremiere im ausverkauften Carl-Orff-Saal gezeigt.
ARRI/Osram Award
Als bester internationaler Film wurde der Film „Shoplifters“ von Hirokazu Kore-eda mit dem ARRI/Osram Award ausgezeichnet. „In seinem Film „Shoplifters” bricht Hirokazu Kore-eda die kleinste Zelle der Gesellschaft, die Familie, auf, so dass sie sich selbst neu sortieren und erfinden kann. Die Protagonisten ändern ihre Namen und ihre Funktionen, sie entwickeln ihre eigenen Ansichten und Moralvorstellungen, ohne dabei von den biologischen Gesetze einer Familie oder gewissermaßen der Gesellschaft einschränken zu lassen. Dadurch ermöglicht „Shoplifters“ neue Möglichkeiten und macht am Ende vor allem eins: Hoffnung“, so die Jurybegründung.
Die Jury des ARRI/Osram Awards bildeten in diesem Jahr das Multitalent – Schauspielerin, Komponistin, Sängerin, Performing Artist – Meret Becker, die amerikanische Kult-Schauspielerin Amanda Plummer und der Musiker und Einstürzende Neubauten-Gründungsmitglied Blixa Bargeld. Im Wettbewerb um den ARRI/Osram Award für den besten internationalen Film in der Reihe CineMasters standen die neuesten Filme von zehn namenhaften Regisseuren und Regisseurinnen. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wird von den Münchner Unternehmen ARRI und Osram gestiftet. Marc Gabizon von Wild Bunch Germany nahm im Namen der Produzenten Karou Matsuzaki, Akihiko Yose, Hijiri Taguchi den Preis entgegen.
CineVision Award
Mit dem CineVision Award für den besten internationalen Nachwuchsfilm wurde „Border“ von Ali Abbasi ausgezeichnet. Die Jury begründet ihre Entscheidung wie folgt: „Border“ ist nicht nur ein beunruhigender Film, sondern auch ein verstörender. Im wahrsten Sinne des Wortes hat uns dieser Film verstört, was unsere Sicherheit, Norm und Überzeugung betrifft: Was ist Schönheit? Was ist normal? Was ist Zärtlichkeit? Was ist ungeheuerlich? Der Film zeigt auf, wie viele wundervolle und schreckliche Dinge uns umgeben, die wir aber kaum mehr wahrnehmen können, weil unsere Sinne derart abgestumpft sind. Allerdings verfügt die Protagonistin des großartigen Films „Border“ über einen vorzüglichen Geruchssinn. Sie ist die gejagte Außenseiterin, deren Perspektive uns einen Blick hinter die Maske des vermeintlich Normalen und in das groteske Gesicht dessen werfen lässt, was wir Menschheit nennen.“
Eine lobende Erwähnung erhielt der taiwanesische Film „The Great Buddha+“ von Regisseur Hsin-Yao Huang. „Mit seiner skurrilen Bildsprache und fantastisch-komischen Dialogen erzählt er die Geschichte zweier naiver Außenseiter und ihres Bestrebens, halbwegs normale Leben in einer absolut absurden Welt zu führen. Diese Absurdität wiederum fängt der Film meisterhaft ein. So liefert er ein mehrdeutiges, formal spielerisches und überraschendes Gesellschaftsporträt.“, so die Jury.
Der CineVision Award im Wert von 15.000 Euro wird von der MPLC Deutschland GmbH (Motion Picture Licensing Company) gestiftet. Im Wettbewerb in der Reihe CineVision standen zehn Erstlings- und zweite Filme internationaler Regietalente, die mit ihrer Filmsprache neue Wege beschreiten. Die Preisjuroren waren in diesem Jahr Schauspielerin Alina Levshin, Theater- und Opernregisseur Andreas Kriegenburg und Frieder Schlaich, der gemeinsam mit Irene von Alberti die Filmgalerie 451 betreibt. Marc Gabizon von Wild Bunch Germany nahm den Preis im Namen des Regisseurs Ali Abbasi entgegen.
FIPRESCI-Preis
„Alles ist gut“ von Eva Trobisch gewann den FIPRESCI-Preis 2018. Die Jury des internationalen Kritikerverbandes bildeten in diesem Jahr der Norweger Jan Storø, der Australier Peter Krausz und der Pole Andrzej Fogler. Sie begründeten ihre Entscheidung wie folgt: „Der Fipresci Preis geht an„Alles ist gut“ von Eva Trobisch. Intelligent und vorausschauend wird hier die Geschichte einer Frau erzählt, die eine traumatische Erfahrung durchleben muss und in einen Strudel zunehmend komplexer Ereignisse gerät.“
Publikumspreise
Am letzten Festivaltag wurden auch die Publikumspreise des Festivals vergeben. Den Bayern 2 und SZ Publikumspreis ging an den Film „Wackersdorf“ von Oliver Haffner. Der Film porträtiert die Geschichte um die Proteste gegen den Bau einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf Anfang der 1980er Jahre. Den Kinderfilmfest-Publikumspreis bekam dieses Jahr „100% Coco“ von Tessa Schram. Er ist zum ersten Mal mit einem Preisgeld von 1.000 Euro dotiert und wird von SZ Familie gestiftet. Der Film erzählt von der 13-jährigen Coco, die mit ihrem ausgefallenen Modestil zunächst aneckt, dann aber als „Style Tiger“ berühmt wird.
ONE-FUTURE-PREIS
Der ONE-FUTURE-PREIS, verliehen von der Interfilm-Akademie, ging in diesem Jahr an den Film„A Letter to the President“ von Roya Sadat. Die Jury – bestehend aus Navina Neverla, Verena Marisa, Tomasz Rudzik – begründet ihre Entscheidung mit den Worten: „A Letter to the President“ist ein bewegender, hochgradig ausgereifter Film, der von den Widersprüchen des afghanischen Rechtssystems und der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen erzählt, die noch zehn Jahre nach dem offiziellen Rückzug der Taliban Bestand haben. Getragen wird der Film von einer unbeirrbaren, starken und mutigen Frau, die sich gegen tief verwurzelte patriarchale Strukturen wehrt und für ihre eigene Freiheit ebenso wie für die Freiheit aller afghanischen Frauen eintritt. Ihre Integrität und ihr Mut zum Widerstand haben Vorbildcharakter für uns alle. Eine unmittelbare, atmosphärische und überzeugende Geschichte, hervorragend gespielt und herausragend inszeniert von Roya Sadat, der ersten weiblichen Regisseurin der Post-Taliban-Ära Afghanistans, die ihrer Protagonistin an Mut in nichts nachsteht.“
Eine lobende Erwähnung ging an den Dokumentarfilm „Welcome to Sodom – Dein Smartphone ist schon hier“ von Florian Weigensamer und Christian Krönes mit der Begründung: „Der Film erzählt von einer Dystopie, die schon seit Langem Teil unserer globalisierten Realität ist. „Sodom“ ist ein Ort der uns alle betrifft, eine globale Frage, welche die relevantesten Fragen sowohl bezüglich Umweltpolitik, aber auch bezüglich sozialer und kultureller Themen stellt.“
Am Freitag, 6. Juli wurden auf dem FILMFEST MÜNCHEN deutsche Nachwuchstalente mit dem begehrten Förderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet. Die Jury – die Schauspielerin Vicky Krieps, Produzentin Jamila Wenske und Regisseurin Uisenma Borchu – ehrt das Drama „Alles ist gut“ über eine junge Frau, die nach einer Vergewaltigung die Fassade aufrechtzuerhalten versucht, mit gleich zwei Preisen: Eva Trobisch wurde für die Beste Regie ausgezeichnet und Aenne Schwarz als Beste Schauspielerin. Den Produzentenpreis erhält Anna de Paoli für die abgründig-disruptive Psychostudie „A Young Man with High Potential“, in der ein hochintelligenter Informatikstudent plötzlich seinen sexuellen Instinkten folgt. Damian John Harper bekommt für seinen Film „In the Middle of the River“ den Preis für das Beste Drehbuch. Darin macht der junge Gabriel seinen Großvater für den Tod seiner Schwester verantwortlich und schwört sich, diesen zu töten.
Der Förderpreis Neues Deutsches Kino ist einer der wichtigsten und höchstdotierten Nachwuchspreise in Deutschland. Gestiftet wird der insgesamt mit 70.000 Euro dotierte Preis von der Bavaria Film, dem Bayerischen Rundfunk und der DZ Bank. Nominiert sind automatisch alle Regisseure, Drehbuchautoren, Schauspieler und Produzenten, die ihre Spielfilme in der Festivalsektion Neues Deutsches Kino vorstellen, sofern es sich um ihren ersten, zweiten oder dritten langen Kinospielfilm handelt. Bei Produzenten darf es maximal der sechste Film sein.
Die Preisverleihung und die anschließende Party fanden heute Abend in der Hochschule für Fernsehen und Film München statt. Eine ausgelassene Feier für den jungen deutschen Film – und ein zweifaches Jubiläum: 30 Jahre Förderpreis Neues Deutsches Kino und 40 Jahre BR-Sendung „kinokino“.
Die Preisträger Förderpreis Neues Deutsches Kino 2018 und Jurybegründungen:
Förderpreis Neues Deutsches Kino REGIE (30.000 Euro)
Eva Trobisch für „Alles ist gut“
„(…) Ein Film, der so bescheiden und ehrlich, schonungslos und direkt erzählt – liebevoll und
dennoch so trocken wie die Realität, mir wie Landschaft ausgerollt und als Knall wieder
entzogen wurde. Als ich aus dem Kino kam, waren mir die Luft aus- und die Augen
aufgegangen. Herzklopfend stand ich im Straßenverkehr und verstand, dass jemand einen
Film gemacht und mir durch die Augen seiner bezaubernden Hauptdarstellerin die Hand
gereicht hatte. Ja, Deshalb machen wir Filme – habe ich gedacht. (…)“
Förderpreis Neues Deutsches Kino SCHAUSPIEL (10.000 Euro)
Aenne Schwarz für „Alles ist gut“
„Dein Schweigen wird dich nicht beschützen”, so Audre Lorde. Doch für Janne scheint genau dieses Schweigen der einzige Schutz zu sein. Sie schützt sich mit einer Ignoranz sich selbst gegenüber. Zu groß ist die Angst, andere zu verletzen und sie mit ihrer Schwäche zu enttäuschen. Janne ist eine Frau aus dem alltäglichen Leben, aber für das Kino noch eine sehr unbekannte. Aenne Schwarz schafft es, diesen Charakter authentisch darzustellen. Es tut immer wieder weh, ihr zuzusehen und die Leinwand wird mit jedem Schweigen, mit jedem „Alles gut“ zu einem Spiegel unserer Gesellschaft. Direkt und ohne einen Hauch von Selbstmitleid führt sie diese stille Frau aus der Verzweiflung heraus in eine Rebellion. Für diese bemerkenswerte Leistung überreichen wir den Förderpreis 2018 bestes Schauspiel an Aenne Schwarz.
Förderpreis Neues Deutsches Kino DREHBUCH (10.000 Euro)
Damian John Harper für „In the Middle of the River“
„Eine knallharte, verstörende Punktlandung in das Land der Verzauberung der „Tierra de Encanto“ – ist dem Autor und Regisseur Damian John Harper mit seinem Drehbuch „In the Middle of the River“ gelungen. Die Geschichte um den Irak-Kriegsveteran Gabriel nimmt uns als Geisel einer schmerzlichen Situation, der wir – ebenso wie die Protagonisten des Films – ohnmächtig gegenüberstehen und ihr nicht entfliehen können. Der emotionale Treibstoff dieses Dramas ist der Hass, der sich aus einer nie versiegenden Quelle von andauernden Verletzungen und tiefem, quälenden Schmerz speist. Der Autor hat nicht nur sich selbst beim Recherche- und Schreibprozess diesem toxischen Setting ausgeliefert, sondern vor allem auch seinen Helden Gabriel, dessen „göttliche Stärke“ in einem dauerhaften Schmerzzustand verloren gegangen ist und den er mit Tabletten zu besiegen versucht. Das komplexe Beziehungsgeflecht ist klug arrangiert, die Lebenswelt New Mexicos und seiner Ethnien genau beobachtet, schonungslos zu Papier gebracht und ihnen damit eine Stimme gegeben. Authentizität wie sie nicht zu erfinden ist, sondern nur von einem aus ihrer Mitte erzählt werden kann. Dafür gebührt Damian John Harper der Drehbuchpreis des Neuen Deutschen Kinos des FILMFEST MÜNCHEN 2018.“
Förderpreis Neues Deutsches Kino PRODUKTION (20.000 Euro)
Anna de Paoli für „A Young Man with High Potential“
„Einen Film zu produzieren gleicht einem Olympischen Zehnkampf: Stoffakquise, Buchentwicklung, Finanzierung, Budgetierung, Packaging, Dreharbeiten, Schnittabnahmen, Post-Produktion, Kostenkontrolle, Herausbringung. Für viele dieser Einzeldisziplinen gibt es Spezialisten, wie sie häufig bei großen Medienunternehmen anzutreffen sind und dort als Team die unterschiedlichen Aufgaben einer Filmherstellung gemeinsam umsetzen. Bei den wirklich unabhängigen Produktionsfirmen findet man eher diese Zehnkämpferinnen und Olympioniken, die sich mit Haut und Haar dem Filme produzieren verschrieben haben. Die möglicherweise wichtigste Eigenschaft dabei ist nicht immer sichtbar. Häufig liegt sie im Schatten und nur selten gerät sie ins Rampenlicht: die Integrität, die sich aus dem Mut zum Risiko und der Loyalität zum Film und seiner Macher dahinter zusammensetzt.
Anna de Paoli ist so eine Zehnkämpferin, die sich in den letzten Jahren ohne das übliche Fördermittel-TV-Sender-Sicherheitsnetz der Produktion des europäischen Films „A Young Man With High Potential“ von Linus de Paoli gewidmet hat. Entstanden ist ein Film, der sich sowohl erzählerisch als auch qualitativ an zeitgemäßen internationalen Standards messen lassen kann und dem Neuen Deutschen Kino eine beispielhafte Perspektive für zukünftiges Produzieren aufzeigt. Anna de Paoli ist eine junge Produzentin mit „High Potential“. Wir verleihen ihr den Preis für die Beste Produktion 2018!“
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