Die 62. Viennale feiert ihren offiziellen Abschluss heute Dienstag mit der Gala-Vorführung des Films DAHOMEY von Mati Diop.
Nach den äußerst erfreulichen Besucher:innenzahlen des Vorjahres und dem diesjährigen vielversprechenden Vorverkauf kann zum Ende des Festivals mit großer Freude von einer weiteren sehr gut besuchten Ausgabe und sogar einer Steigerung im Vergleich zu 2023 berichten. In 13 Festivaltagen besuchten 75.800 Menschen Filmvorführungen der Viennale, was einer Auslastung von 76,3% entspricht.
Das diesjährige Rahmenprogramm fand in neuem Format statt: im Viennale Zentralino gingen sechs interessante Gespräche bzw. Masterclasses u.a. mit Joshua Oppenheimer, Albert Serra oder Bruno Dumont über die Bühne, die das Obergeschoß des Metro Kinokulturhaus in einen Ort des konzentrierten Diskutierens und Reflektierens rund um die Filme und das Filmemachen verwandelten. Die heiß begehrten Viennale Partys fanden diesmal in drei etablierten Club-Institutionen statt und füllten die Locations bis auf den letzten Platz – kein Wunder bei DJs wie Viennale-Wiederkehrer Lars Eidinger, Mambo Chick, Sarah Farina oder den Filmemacher:innen Arash T. Riahi, Elsa Kremser und Levin Peter.
„Es war eine wunderbare Ausgabe, die sich natürlich mit dem politischen Klima der Unsicherheit und Besorgnis und den Konfliktsituationen an so vielen Fronten auf internationaler Ebene auseinandersetzen musste“, sagt Viennale Direktorin Eva Sangiorgi über die vergangenen zwei Festivalwochen. „Die Teilnahme des Publikums war außergewöhnlich, und die Großzügigkeit der Gäste hat Begegnungen, Diskussionen und viele Reflexionen gefördert, die, davon bin ich überzeugt, uns allen das Gefühl
gegeben haben, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sich der Gewalt nicht anpassen will, sondern sich ihr mit Hilfe der vielen Sprachen des Kinos entgegenstellt.“
Die Viennale 2024 bot wieder jede Menge Höhepunkte, darunter war die Eröfnungsgala mit dem kürzesten jemals bei der Viennale gezeigten Eröfnungsfilm C’EST PAS MOI von Leos Carax, einem unkonventionellen, essayistischen Film, den Eva Sangiorgi gleich zu einem Manifest für diese Festival-Ausgabe erklärte. Nicht ganz unerwartet sorgten die größeren Hits des Festivaljahres für prickelnde Atmosphäre und ausverkaufte Säle – auch im Gartenbaukino mit seinen 736 Sitzen, von denen bei dieser Viennale nur wenige frei blieben: So gesehen bei Jesse Eisenbergs A REAL PAIN, Sean Bakers ANORA, Aaron Schimbergs A DIFFERENT MAN oder EMILIA PÉREZ von Jacques Audiard, um nur einige zu nennen. Eine besonders großartige Erfahrung war Brady Corbets THE BRUTALIST, der von einer frisch aus dem Werk gelieferten 70mm-Kopie gespielt wurde.
Ungewöhnlich starkes Feedback löste Andreas Dresens beeindruckender Film IN LIEBE, EURE HILDE aus – begleitet von einem Auftritt der außergewöhnlichen Schauspielerin Liv Lisa Fries.
Eine ganz besondere Kino-Erfahrung ermöglichte der erst dieses Jahr aus dem Iran geflohene Regisseur Mohammad Rasoulof dem Publikum mit seinem Besuch in Wien und den bewegenden Gesprächen nach den Screenings seines Films DANEH ANJEER MOGHADAS (THE SEED OF THE SACRED FIG). Joshua Oppenheimer begeisterte wiederum mit seinem post – apokalyptischen Musical THE END und den blitzgescheiten Gedanken rund ums Filmemachen im Rahmen seiner Masterclass im Zentralino.
Einen besonders großen Buzz gab es bei dieser Viennale um die österreichischen Filme, angefangen bei Kurdwin Ayubs schon anderweitig vielfach ausgezeichnetem Film MOND, Alexander Horwaths imposantem Essayfilm HENRY FONDA FOR PRESIDENT, Mo Harawes THE VILLAGE NEXT TO PARADISE bis hin zu DEAR BEAUTIFUL BELOVED von Juri Rechinsky oder BLUISH von Lilith Kraxner und Milena Czernovsky, um nur einige zu nennen.
Auch die als „kleiner“ empfundenen Programme wurden vom Wiener Publikum gut aufgenommen, allen voran die durchaus experimentelle Monografie des mexikanischen Kollektivs Los Ingrávidos oder die Historiografie „Newly Restored“. Große Aufmerksamkeit auch beim nationalen wie internationalen Fachpublikum konnte die gemeinsam mit dem Filmmuseum realisierte Retrospektive zu Robert Kramer auf sich ziehen. Darüber hinaus konnte die Viennale auch in diesem Jahr viele großartige Gäste begrüßen, die ihre Filme vorstellten, darunter die schon erwähnten Mohammad Rasoulof, Liv Lisa Fries und Joshua Oppenheimer, aber auch Nele Wohlatz, Bruno Dumont, Radu Jude, Alain Guiraudie, Roberto Minervini, Bernard Eisenschitz, Miguel Gomes, Luca Guadagnino, Florentina Holzinger, Romuald Karmakar, Rusudan Glurjidze, Denis Lavant, Tsai Ming-liang, Albrecht Schuch u.v.a.
WIENER FILMPREIS
Der Wiener Filmpreis, eine von der Stadt Wien gestiftete und im Rahmen der Viennale vergebene Auszeichnung, gilt einem aktuellen österreichischen Langfilm, der im vergangenen Jahr zur Auführung gelangte. Die Dotierung dieses Preises besteht aus einem Geldbetrag, der vonseiten der Kulturabteilung der Stadt zur Verfügung gestellt wird, und einer monetären Unterstützung vom Hotel The Harmonie Vienna. Neben dem Preis für den besten österreichischen Film wird beim Wiener Filmpreis auch der Spezialpreis der Jury vergeben.
Jury: Alessandra Thiele (stellvertretende Geschäftsführerin des Österreichischen Filmmuseums), Sebastian Höglinger (freier Kurator und vormaliger Ko-Leiter der Diagonale), Lena Rosa Händle (Fotografin, Künstlerin und Dozentin)
Bester österreichischer Film:
THE VILLAGE NEXT TO PARADISE, Mo Harawe, Österreich, Frankreich, Deutschland, Somalia 2024
Jurybegründung: Die Jury verleiht den Wiener Filmpreis 2024 an einen Film, dem es mit eindrücklicher Ofenheit gelingt, eine Realität zu zeigen, die aus europäischem Blickwinkel häufig abstrakt bleibt – oder in Form von Newsberichten zur Schlagzeile verkürzt wird. In Somalia, und großteils mit lokalem Team und Set-unerfahrenen Schauspieler:innen gedreht, erzählt THE VILLAGE NEXT TO PARADISE zuvorderst vom Alltag einer Familie.
Einstellung um Einstellung verschiebt sich unsere Wahrnehmung der mehrschichtigen Verzweigungen, Umstände, Träume und Schwierigkeiten der Protagonist:innen. Vieles, wie die Sehnsucht der Menschen nach Zugehörigkeit und Solidarität, vermittelt sich subtil und zugleich voller Liebe. Wie Spuren am Wegrand lassen sich Hinweise deuten und in größere – mitunter globale – Zusammenhänge einordnen. Vieles erzählt sich in atemraubend fotografierten Bildern, denen Regisseur Mo Harawe Vertrauen und Zeit zum Dauern schenkt. Dabei überraschen uns sukzessive Wendungen und eine Selbstverständlichkeit, mit der sich Schönheit und Zärtlichkeit, Schwere und Komplexität wechselseitig durchdringen. Harawes Langfilm-Erstling ist damit Kino im wahrsten Sinn und lässt uns mit einem bleibenden Eindruck zurück. Mit einem Nachhall, der die eigenen, angelernten Perspektiven auf unsere Welt (nicht nur filmisch) in Frage stellt.
Spezialpreis der Jury:
FAVORITEN, Ruth Beckermann, Österreich 2024
Jurybegründung: In FAVORITEN richtet Ruth Beckermann ihren forschenden und durchdringenden Blick von Wien aus auf die Überschneidung zweier entscheidender, neuralgischer – und globaler – Themen unserer Zeit: die Idee/Möglichkeit von multiethnischem und -kulturellem Zusammenleben (wie es in Favoriten, dem wahrscheinlich vielfältigsten Bezirk Wiens tatsächliche Realität ist) und die Idee/Möglichkeit der Weitergabe von Wissen als Schlüsselkomponente für ein soziales Miteinander in einer sich entwickelnden und funktionierenden Gesellschaft. Die Ergebnisse von Beckermanns geduldiger
Beobachtung in einer Wiener Volksschule und über mehrere Jahre hinweg sind ein wahrer dokumentarischer Glücksfall.
FAVORITEN tritt den konkreten und empathischen Beweis an, dass die jüngsten Generationen unser Vertrauen verdienen, dass es sich mehr denn je lohnt über Bildungsgerechtigkeit zu sprechen, und dass harte Realitäten und liebevolle Gemeinschaft kein Widerspruch sein müssen. Nicht zuletzt zeigt FAVORITEN, dass das Engagement einer einzelnen Person – im Film verkörpert durch die engagierte, fürsorgliche und menschlich involvierte Lehrerin Ilkay Idiskut – den großen Unterschied für so viele machen kann. Vor 28 Jahren wurde Regisseurin Ruth Beckermann das letzte Mal mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnet. Mit dem Wien-Film FAVORITEN, der weitaus mehr erzählt als eine bloße Wien-Geschichte, ist eine Rückkehr unumgänglich.
VIENNALE-PREIS DER STANDARD LESER:INNEN-JURY
DER STANDARD organisiert auch dieses Jahr wieder den Preis der Standard-Publikumsjury. Die Juror:innen wählen aus den Festivalbeiträgen einen Film aus, der noch keinen Verleih in Österreich hat. Findet der ausgezeichnete Film in der Folge einen Vertrieb, unterstützt DER STANDARD den Filmstart mit kostenlosem Anzeigenraum in der Zeitung.
Jury: Constanze Liko, Carmen Petrosian-Husa, Stefan Rudigier
Der VIENNALE-PREIS DER STANDARD LESER:INNEN-JURY geht an:
FARIO, Lucie Prost, Frankreich 2024
Jurybegründung: Lucie Prosts Film Fario etabliert seine eigene Visualität, die tiefgreifende Einblicke in das Innenleben eines jungen Mannes vor dem Hintergrund aktueller Probleme zeigt. In atmosphärischer Dichte und mit subtiler Erzählweise zeichnet die Regisseurin Beziehungen zwischen Mensch und Tier, Familie und Freunden. Themen wie Trauer und Trauma werden kathartisch aufereitet, und kulminiert, mit den Worten Prosts, in einer „story of a rebirth.“
FIPRESCI PREIS (PREIS DER INTERNATIONALEN FILMKRITIK)
FIPRESCI, der Internationale Verband der Filmkritiker:innen, wurde 1930 gegründet. Der Verband hat sich der Pflege journalistischer Ethik verschrieben und vertritt die professionellen Interessen seiner Mitglieder. Die Mitglieder der FIPRESCI kommen aus aller Welt und finden sich in kleinen Jurys auf zahlreichen Filmfestivals ein, um den Preis des Internationalen Filmkritikerverbandes zu vergeben. Meist wählen sie dabei – wie bei der Viennale – aus einer Reihe von ersten und zweiten Features junger
Filmemacher:innen.
Jury: Engin Ertan, Walter Gasperi, Alexander Melyan
Der FIPRESCI-Preis geht an:
UNE LANGUE UNIVERSELLE (UNIVERSAL LANGUAGE), Matthew Rankin, Kanada 2024
Jurybegründung: Wir haben beschlossen, einen Film auszuzeichnen, der sich auf originelle Weise mit relevanten Themen wie Migration und Vertreibung auseinandersetzt. In dieser rafniert inszenierten Komödie, die verschiedene Welten vereint – sowohl im geografischen als auch im filmischen Sinn – verlieren wir das Gefühl für Zeit, Raum und Sprache. Als Anhaltspunkte dienen uns meist nur Verweise auf andere Filme und Filmschafende. Dieses einzigartige Werk ist nicht nur eine Liebeserklärung an das iranische Kino der 1980er- und 1990er-Jahre, sondern auch an den trockenen Humor, der gewöhnlich mit nordischen Ländern assoziiert wird.
„Im Namen der Freundschaft“ geht der FIPRESCI-Preis der 62. Viennale an UNE LANGUE UNIVERSELLE (UNIVERSAL LANGUAGE) von Matthew Rankin.
ERSTE BANK FILMPREIS – Vermehrt Schönes!
Zum 14. Mal wird heuer der von der Erste Bank initiierte und gestiftete Erste Bank Filmpreis in Zusammenarbeit mit der Viennale, dem Deutschen Haus at NYU und dem Anthology Film Archives vergeben. Der Erste Bank Filmpreis wird unter den österreichischen Filmproduktionen, die im Programm der Viennale laufen, über eine unabhängige Jury vergeben. Der Filmpreis ermöglicht einen Aufenthalt in New York City einschließlich einer Werkpräsentation im Anthology Film Archives.
Jury: Silvia Bohrn (Kulturmanagerin), Nicolas Mahler (Comic Zeichner, künstlerische Leitung Schule für Dichtung), Boris Manner (Philosoph, Kurator), Jed Rapfogel (Film Programmer Anthology Film Archives)
Der Erste Bank Filmpreis geht an:
JEŠTĚ NEJSEM, KÝM CHCI BÝT (I’M NOT EVERYTHING I WANT TO BE),
Klára Tasovská, Tschechische Republik, Slowakei, Österreich 2024
Jurybegründung: 1968 Prag, 1979 Tokyo, 1990 Berlin. Teil der tschechischen Gegenkultur, gefeierte Modefotografin, Zimmermädchen im Hotel Intercontinental. Dies sind einige der Lebensstationen von Libuše Jarcovjáková. Als Kind eines Prager Künstlerpaares gerät sie schon früh zur Fotografie die ihre große Leidenschaft wird. „Ja, das ist ein Zwang. Ich werde nämlich extrem von Spiegeln und ihrer Reflexion angezogen. Ich fotografiere überall, im Zug, im Klo“, bemerkt die Künstlerin selbst im Jahr 2021.
Aus mehr als 70.000 Fotografien gestaltet Klára Tasovská diesen Film als eine rasante Abfolge von Momentaufnahmen eines bewegten und schillernden Lebens, das im wahrsten Sinne des Wortes durch die Augen der Protagonistin gesehen wird. Die rhythmische Montage verbindet herrliche Schwarz-Weiß-Fotografien, Tagebuchaufzeichnungen und einen hervorragenden Soundtrack zu einem sinnlichen Gesamterlebnis. Schon bald vergisst das Publikum die Tatsache, dass es sich um unbewegte Bilder handelt. Sie geraten in einen Sog, dem sie sich nicht entziehen können. Dieser Film ist ein Portrait der etwas anderen Art: direkt, uneitel und bewegend. Einfach großes Kino.
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