Mit der Galavorführung des Films THE TRUFFLE HUNTERS von Michael Dweck und Gregory Kershaw geht die 58. Ausgabe der Viennale am heutigen Sonntag zu Ende.
Es war eine außergewöhnliche Viennale – gewissermaßen im Ausnahmezustand. Mit ein bisschen Glück, als Präsenzfestival gerade noch stattfinden zu können und mit einer überraschenden Reaktion der Zuschauer*innen: Trotz der um drei Tage verkürzten Dauer und der massiven Verringerung der Sitzplatz-Kapazitäten konnte die Viennale 42.000 Besucher*innen in den Kinosälen begrüßen. „Noch vor ein paar Wochen konnten wir nicht absehen, wie die Filmfreund*innen dieser Stadt unser Angebot in Zeiten der Pandemie annehmen würden“, freut sich Viennale Direktorin Eva Sangiorgi. „Ich bin überwältigt von der Reaktion des Publikums, sie übertrifft meine Erwartungen bei weitem.“
Das diesjährige Festival: Elf Tage, zehn Kinos, 320 Vorführungen, 52 internationale und 45 österreichische Filmgäste, dazu zahlreiche Journalist*innen, Kritiker*innen und Gäste aus der Filmbranche.
Am Eröffnungsabend war MISS MARX an allen zehn Spielorten der Viennale zu sehen. Die Regisseurin Susanna Nicchiarelli besuchte mehrere davon und war begeistert, dem Wiener Publikum in unseren schönen Kinos begegnen zu können. Das Festival begann mit der Anwesenheit und Unterstützung vieler Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Politik bei der Eröffnungsgala im Gartenbaukino, insbesondere von Bundespräsident Alexander Van der Bellen und der Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, die auf die immense Bedeutung von Kultur und Veranstaltungen wie der Viennale in dieser herausfordernden Zeit hinwiesen.
Die Präsenz der Regisseur*innen, Produzent*innen und Autor*innen belebte die Säle, und das Publikum reagierte äußerst wohlwollend, indem es in großer Zahl in die Kinos strömte. Viele Autor*innen freuten sich, in einem gemeinsamen Raum interagieren zu können, von Jasmila Žbanić bis Abel Ferrara, von Radu Jude bis Želimir Žilnik, dem wir eine unserer Kinematografien widmeten und der im gleichen Zeitraum in der Kunsthalle eine erweiterte Ausstellung seiner Werke eröffnete.
120 Bühnengespräche mit anwesenden Künstler*innen fanden in den Kinosälen statt, etwa zehn davon online, um uns u.a. mit Eliza Hittman, Kelly Reichardt, John Gianvito und Gianfranco Rosi zu verbinden.
Eines der großen Highlights des Festivals war die CHRISTOPH SCHLINGENSIEF gewidmete Monografie, die uns – ausgehend von Bettina Böhlers Dokumentarfilm über den Künstler – erlaubte, uns eingehend mit seinem filmischen Werk auseinanderzusetzen, einschließlich unveröffentlichtem Material wie seinem ersten Film, der entstand, als er noch ein Kind war, dem THEATERFILM und dem außergewöhnlichen SAY GOODBYE TO THE STORY, einer großen Hommage an Irm Hermann (1942–2020).
Durch die Isabel Pagliai gewidmete Monografie war es möglich, eine junge Autorin zu entdecken, die in der Lage ist, die Poesie der Kinder einzufangen und dem Kino in einer nie zuvor gekannten Weise zugänglich zu machen.
Das nationale Kino spielte in diesem Jahr eine besonders große und wichtige Rolle, da viele österreichische Filmemacher*innen, Autor*innen, Produzent*innen und Schauspieler*innen anwesend waren. Das Programm AUSTRIAN AUTEURS des Filmarchiv Austria ließ uns eine Reihe von wesentlichen Independent-Werken der österreichischen Filmgeschichte wiederentdecken. Darüber hinaus erwies sich die Auswahl der Kinematografie KOLLEKTION DIAGONALE’20 als eine notwendige Synergie, um in diesen schwierigen Zeiten zusammenzuhalten und unser Kino gemeinsam zu feiern.
Die Retrospektive RECYCLED CINEMA in Zusammenarbeit mit dem Filmmuseum unterstrich die Fähigkeit des Kinos, Verbin- dungen zwischen verschiedenen Situationen und Zeiten, zwischen Erzählungen und Autor*innen herzustellen – etwas in diesen Tagen besonders Eindrucksvolles.
Besonders bemerkenswert war sicher eines: Als die Pandemie sich in den letzten Tagen in vielen Ländern – und auch bei uns – verschlimmerte, ging das Festival trotzdem mit einem starken Gefühl der Sicherheit und der Solidarität unter allen Teilnehmer*innen weiter.
„Der Geist der Viennale 2020 feierte in der Tat den Gemeinschaftssinn“, so Viennale Direktorin Eva Sangiorgi. „Unter all jenen, die für die Kultur und insbesondere für das Kino arbeiten, die die Kultur und das Kino lieben und die sich von ihnen ernähren. Ein besonderer Dank gilt dem Publikum: für seine Leidenschaft und sein Vertrauen.“
WIENER FILMPREIS
Jury: Rapperin und Poetry-Slammerin Yasmo, Journalistin Renata Schmidtkunz (ORF) sowie Kira Kirsch, künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin von brut Wien.
Der Wiener Filmpreis, eine von der Stadt Wien gestiftete und im Rahmen der Viennale vergebene Auszeichnung, gilt einem aktuellen österreichischen Langfilm, der im vergangenen Jahr zur Aufführung gelangte. Die Dotierung dieses Preises besteht aus einem Geldbetrag, der von Seiten der Kulturabteilung der Stadt zur Verfügung gestellt wird, einer monetären Unterstützung von Hotel The Harmonie Vienna, sowie großzügigen Sachwerten, gestiftet von den Sponsoren BLAUTÖNE und viennaFX. Beim Wiener Filmpreis werden zwei Preise vergeben: der Preis für den besten österreichischen Film und der Spezialpreis der Jury. Durch die Großzügigkeit und das Engagement aller Beteiligten ist der „Wiener Filmpreis“ weiterhin Ermutigung und Anerkennung für die Arbeit österreichischer Filmemacher und Filmemacherinnen.
Bester österreichischer Film
EPICENTRO, Hubert Sauper, Österreich/Frankreich 2020
Jurybegründung:
Hubert Sauper ist es in gleichermaßen poetischer wie politisch-analytischer Art gelungen, uns Begegnungen mit Menschen, im Besonderen mit Kindern der kubanischen Hauptstadt Havanna zu ermöglichen. Der Film verwebt den Moment, in dem die Bilder laufen lernten, mit den Visionen der kleinen Prophetinnen und Propheten – wie Sauper die Kinder von Havanna nennt. Dabei ist er sowohl mit der Kamera als auch mit dem Erzählstrang immer auf Augenhöhe mit seinen selbstbewussten, lebensfroh und lebensklugen ProtagonistInnen. Hubert Sauper nähert sich allen Charakteren in solidarischer Zärtlichkeit und macht so die von den Kindern geäußerten Utopien zu verwirklichbaren Möglichkeiten. Das stimmt uns optimistisch.
Spezialpreis der Jury
THE TROUBLE WITH BEING BORN, Sandra Wollner, Österreich/Deutschland 2020
Jurybegründung:
In ihrem Film THE TROUBLE WITH BEING BORN nimmt Sandra Wollner in ästhetisch äußerst gelungener Art ein Thema auf, das unsere Gesellschaften in den nächsten Jahrzehnten sehr beschäftigen wird. Der Mensch erschafft sich in Form von Androiden Projektionsflächen, die alle Wünsche erfüllen und jenseits der Menschenrechte existieren. Die bisher gültigen moralischen Übereinkünfte werden obsolet. Die Macht der Bilder und das verstörende Narrativ dieses Filmes haben uns ambivalent zurückgelassen. Sie zwingen uns
alle, in die Auseinandersetzung mit den eigenen ethischen Vorstellungen über Liebe und Herrschaft, der Zukunft der Menschenrechte im Zeitalter der künstlichen Intelligenz und dem tiefen Graben zwischen Erinnerung und Projektion zu gehen. Ob wir wollen oder nicht.
VIENNALE-PREIS DER STANDARD LESERJURY
Jury: Hildegrund Amanshauser, Susanne Jäger, Iona Domenica Zamfirescu
Der Preis der Standard-Leserjury geht an einen Film, der noch keinen Verleih in Österreich hat und dem ein Kinostart in Österreich besonders empfohlen wird. Findet der Film einen Verleih, ist der Kinostart mit kostenlosem Anzeigenraum in der Tageszeitung „Der Standard“ verbunden.
Der VIENNALE-PREIS DER STANDARD LESERJURY geht an:
SELVA TRÁGICA, Yulene Olaizola, Mexiko/Frankreich/Kolumbien 2020
Jurybegründung:
Von der ersten bis zur letzten Szene tauchen wir in den Regenwald, seine Tierwelt und drückende Hitze ein. An einer Flussgrenze zwischen Mexiko und Belize flieht eine Frau vor einem britischen Gutsherrn und findet sich in einer Gruppe von mexikanischen Kautschuk-Arbeitern wieder. Doch bevor sich ihre Unterdrückung fortsetzt, beginnen die magischen Kräfte des Waldes zu wirken. Die Jury überzeugte die Geschichte, die einen Mayamythos mit der Geschichte entkommener Sklavinnen verschränkt. Sie war begeistert von der eindringlichen Bildsprache und dem großartigen Sound des Films SELVA TRÁGICA von Yulene Olaizola.
SELVA TRÁGICA erzeugt von Anfang bis zum Ende einen pulsierenden Sog, der von der Gier des Menschen, vom Tod und der Schönheit und Grausamkeit des Regenwalds erzählt.
FIPRESCI PREIS (PREIS DER INTERNATIONALEN FILMKRITIK)
Jury: Hossein Eidizadeh, Barbara Lorey de Lacharriere, Pia Reiser
Zur Auswahl steht eine Reihe von Erst- und Zweitfilmen von Regisseur*innen.
Der FIPRESCI-Preis geht an:
ZABIJ TO I WYJEDZ Z TEGO MIASTA, Mariusz Wilczyński, Polen 2019
Jurybegründung:
Der FIPRESCI-Preis geht an ZABIJ TO I WYJEDZ Z TEGO MIASTA von Mariusz Wilczyński für die bestechend phantasievolle und rohe Verwendung von Animation, um eine persönliche Geschichte zu erzählen, die auf dem schmalen Grat zwischen Albträumen, Träumen und Splittern von Kindheitserinnerungen wandelt. Beunruhigend, kompromisslos und rätselhaft zugleich. Eine eindringliche Story, die tief in die Psyche, Geschichte und Kultur Polens eindringt und es dennoch schafft, sich in eine universelle
Erzählung über Verlust, Erinnerung, Kindheit und Liebe zu verwandeln.
ERSTE BANK MehrWERT-FILMPREIS
Jury: Silvia Bohrn, Boris Manner, Andreas Ungerböck
Zum 10. Mal wird heuer, der von der Erste Bank initierte und gestiftete MehrWERT-Filmpreis vergeben. Der Erste Bank MehrWERT-Filmpreis wird unter den österreichischen Filmproduktionen, die von der Viennale kuratiert sind, über eine unabhängige Jury vergeben. In den vergangenen Jahren wurde mit dem Erste Bank MehrWERT-Filmpreis ein Aufenthalt in New York City einschließlich einer Werkpräsentation im Anthology Film Archives ermöglicht. 2020 wird, den aktuellen schwierigen Gegebenheiten geschuldet, der Erste Bank MehrWERT-Filmpreis als Geldpreis vergeben.
Auf Empfehlung der Jury werden zwei Preise vergeben: der Erste Bank MehrWERT-Filmpreis dotiert mit € 6.000 und eine MehrWERT-Filmpreisanerkennung dotiert mit € 3.000.
Der Erste Bank MehrWERT-Filmpreis 2020 geht an:
ZAHO ZAY, Georg Tiller, Maéva Ranaïvojaona, Österreich/Frankreich/Madagaskar 2020
Jurybegründung:
ZAHO ZAY ist eine präzise, komplexe und bewusste filmische Meditation über die conditio humana. Die Protagonistin, eine Wärterin in einem madegassischen Gefängnis, phantasiert die Rückkehr ihres eigenen Vaters, der sie als Kind verlassen hat. Zwischen den von ihr beaufsichtigten demütigenden Ritualen des täglichen Appels der Gefangenen, dem Rasieren der Köpfe der Verurteilten und dem Verteilen des Essens, erträumt sie einen mythischen Vater, der als Gesetzloser unerreichbar durch eine Biographie an Verbrechen wandert und dessen Taten weder durch Vernunft noch durch Emotion bestimmt werden. Einzig die Würfel lässt er über den Fortgang seines Handelns entscheiden. Diese Dialektik von Freiheit und Gefangenschaft, Zufall und Ordnung in der Erzählung des Films wird auch in dessen anderen Ebenen zum Angelpunkt von dessen Konstruktion. Scheint am Beginn die Stimme der Erzählerin, die in ihrem Vortrag den Text mehr und mehr in ein Gedicht transformiert, der Autorin des Drehbuchs zu gehören, verschiebt sich diese im Laufe der Zeit zur Protagonistin um dann im letzten Teil des Filmes mit dessen Bildern zu einem halluzinatorischen Poem zu werden. Auch der filmische Blick oszilliert zwischen dokumentarischen und inszenierten Positionen. Blitzt in den Sequenzen im Gefängnishof noch ein kolonialer Blick der Filmemacher auf, verschwindet dieser in den traumhaften Erscheinungen des Vaters. Diese Bewegungen zwischen den unterschiedlichen Repräsentationsformen entwickeln sich zu einem ununterscheidbaren Ganzen. Der langsame Rhythmus, der genaue Schnitt und das perfekte Ineinandergreifen von scheinbar inkohärenten Elementen transzendieren ZAHO ZAY zu etwas Unverwechselbarem, zu einem Film der jenseits der Gattungen Spielfilm oder Dokumentation angesiedelt ist.
Die Erste Bank MehrWERT-Filmpreisanerkennung 2020 geht an:
BITTE WARTEN, Pavel Cuzuioc, Österreich 2020
Jurybegründung:
BITTE WARTEN ist ein leiser Film, der sich der Thematik der Kommunikationstechnologie humorvoll und klug widmet. Wir begleiten die Telekommunikations-Monteure bei ihren Besuchen in Haushalte: am Land, meist in kleinen Dörfern und reisen so in einige, an die EU grenzende östliche, Nachbarländer. Wir erhalten Einblick in persönliche Geschichten, in andere Lebensrealitäten. Als verbindend zeigt sich, dass Telekommunikation immer auch eine Kette von nicht enden wollenden Absurditäten ist, denen wir alle ausgeliefert sind. Ein wiederkehrendes Thema im Film ist die Kritik der Menschen am schlechten Programm, das man ihnen verkauft. Dieser Film gehört definitiv nicht dazu.
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